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  • AutorenbildRafete Mamuti

Der Schmerz in den Füssen

Nicht ein einziger Tag verging, an dem ich nicht mit Rina an die frische Luft ging. Wir verbrachten nur drei Sommerferienwochen zusammen, da wir den Rest der Zeit unserer Familie widmeten. Jeden Tag gingen wir ins Freibad. Die meiste Zeit war es voll, weil alle hierherkamen, um sich abzukühlen. Ich erinnere mich an die Zeit. Es war sehr heiss, fast 30 Grad. Das Wasser hatte eine Temperatur von 12 Grad. Es war recht kühl. Rina und ich sprangen ins Wasser, als gäbe es keinen Bademeister, der uns jede Sekunde anschreien und aus dem Becken holen könnte. Wir verbrachten den ganzen Tag nur im Wasser und gingen nur fürs Essen an unseren Platz. Neben uns sassen die coolen Kids. Sie rauchten und lagen alle aufeinander. Wir schauten ihnen zu und dachten uns, wie peinlich es ist, halbnackt neben und auf Jungs zu liegen, nichtwissend, dass wir es eines Tages auch machen würden. Die Jungs dort beobachteten uns jedes Mal, als wir neben ihnen vorbeiliefen. Wir ignorierten sie und redeten uns ein, dass es an unserem Körper lag. Damals hasste ich mich. Wer würde so ein Mädchen anschauen? Ein Mädchen mit breiten Schultern und Fett am Bauch und an ihren Oberschenkeln. Niemand wollte das. Das war hässlich. Ich fühlte mich hässlich. Obwohl man mir immer sagte, dass ich den perfekten Körper hatte, fühlte ich mich nicht perfekt und wohl. Der Körper der Frau besteht nur darin, dass Männer ihn begehren können. Dass Männer ihn betrachten können und damit anstellen können, was sie wollen. Ihn sexuell und als Objekt anzusehen, um sich zu befriedigen. Dabei ist unser Körper ein Geschenk von Mutter Natur. Es schützt uns. Es kann Leben zeugen. Es soll uns wohl fühlen lassen, also warum fühlen wir uns doch in unserem eigenen Körper, unserer eigenen Haut unwohl? Sie drehten ihre Köpfe nach uns und rissen die Augen weit auf. Ich konnte ihnen das nicht übelnehmen, Rina auch nicht. Wir besassen die Brüste, die Taille und die Hüften einer Frau, obwohl wir erst 13 waren. Wir unterschieden uns von den anderen Mädchen dort. Kein Wunder wurden wir schon mit 13 angesprochen. Unser Gesicht verriet, dass wir jung waren, sehr jung. Auch unsere Denkweise. Auch wenn ich jetzt fünf Jahre älter bin, bin ich doch die Gleiche. Sie und ich sind die gleiche Person geblieben. Wir sind reifer geworden, doch schon da waren wir reif genug, um zu wissen, dass wir diesen Jungs keine Achtung schenken sollen. Das taten wir auch nicht. Wir liefen weiter und ignorierten die Kommentare und Blicke. Gingen an unseren Platz und wickelten uns in den Badtüchern ein, sodass man nur noch unseren Kopf herausragen sah. «Wir sollten stolz darauf sein, dass sie uns angestarrt haben. Ich meine sieh uns nur an», sagte Rina zu mir. Ein Kompliment war es. Ich weiss. Aber trotzdem fühlte ich mich unwohl. Es passierten nicht viele Dinge im Schwimmbad. Die meiste Zeit war langweilig. Aber Rina rettete jedes Mal meinen Arsch. Zum Beispiel als ich einen Freund hatte und sein Name von einem Kolleg durchs ganze Feld gerufen wurde mit dem Spruch «Schon gepoppt?». Rina rief sofort zurück, dass er seine Klappe halten sollte, was er auch machte. Rina lernte meinen Onkel und seine Frau, meine Tante und ihren Mann, meinen Cousin und seine Frau, sowie meine Coucousins kennen. Ich lernte ihre Familie, ihre Cousine aus Frankreich, ihre Tante und ihre Kinder kennen. So begegneten wir allen im Schwimmbad und stahlen meistens ihr Essen z.B., assen wir Trockenfleisch auf der Wasserrutschbahn. Die Zeit im Schwimmbad war eine Zeit für sich. Ich tauchte oft sehr lange unters Wasser, drehte mich mit dem Rücken zum Boden, den Bauch zur Sonne gedreht und blickte auf das Wasser über mir. Ich sah, wie die Sonnenstrahlen auf das Wasser trafen und es zum Glänzen brachten. Meine Augen schmerzten wegen dem ganzen Chlor. Das Wasser trug mich, sodass ich mich leicht fühlte. Es steht für das Leben, den Schmerz und für die Seele - und immer für einen großen Teil von uns selbst. Waren wir deswegen so oft ins Freibad gegangen? Weil wir wussten, es beruhigte unsere Seele und wir fänden uns selbst. Und als wir uns entschieden zu alt dafür zu sein, trügen wir den Schmerz in unseren Füssen und wären ihn nie mehr losgeworden?
Das Klingeln meines Handys weckt mich. Ich öffne meine Augen und sehe «Rina». Meine Freundin hat mir geschrieben. Ich öffne Rinas Nachricht. «Ich sage dir ehrlich, Freibad im Dorf bockt nicht.» Ich schreibe zurück: «Du hast mich aufgeweckt!» Ich gehe ins Wohnzimmer, mache meine Sachen parat. Rina schreibt mir noch, dass sie mich abholt. Wir laufen zum Freibad, und laufen durch das ganze Areal, bis wir einen perfekten Platz zum Liegen gefunden haben. Wir sehen beide gut aus. Wir schauen uns an und fangen an zu Lachen. «Haben wir nicht gesagt, wir kommen nie mehr hier her?» Wir hatten das gesagt, aber das Wasser bleibt ein Teil unseres Lebens. Es bedeutet nicht umsonst «Leben». Den ganzen Tag im Wasser und an der Sonne erzähle ich ihr mein Treffen mit Bani und vieles weiteres. Sie erzählt mir noch ihre Stories. Wir waren damals gar nicht selbstbewusst, bzw. wir fanden uns geil und besser als die anderen, aber im Hinterkopf war immer diese böse, negative Stimme, die sagte, wie hässlich und schlecht wir seien. Diese Phase haben wir überstanden und hier stehen wir, mitten von dem grünen Gras, vor dem tiefen Schwimmbecken, dessen Rand voller Männer ist. Rina und ich ölen uns ein, nicht ölen, wir tunken uns ins Öl ein und riechen nach Kokosnuss. Wir liegen in der heissen Sonne, hören unseren Körper zischen und reden. Nach einer Weile stehen wir auf und laufen zum Wasser, um uns abzukühlen. «Wir sehen gut aus», und geben uns eine Faust. Früher liefen wir denselben Weg unsicher und mit Kopf hängend, dass wir ja niemanden anschauen. Jetzt laufen wir hier, mit Kopf hoch, jedem ins Gesicht blickend, voller Selbstbewusstsein und Ego. Alle, die am Rand sitzen, Mann und Frau blicken uns an, sie verfolgen uns mit ihren Augen. Rina in ihrem schwarzen Schlangen-Bikini und ich in meinem knallgrünen. «Wir sehen echt gut aus.» Ein paar Blicke und Sprüche weiter, sind wir wieder an der Sonne. Nass liegend auf dem Badetuch sehen wir uns an. «Liri, du bist meine Lieblingsperson. Echt, mein Soulmate.» Ich blicke in ihre schwarzen Augen, die von der Sonne geblendet werden. Gehe ihre Wörter mehrmals durch meinen Kopf, bis ich schliesslich sage: «Du auch.» Unsere Hände berühren sich, wir lachen laut auf und halten Händchen. Wir wissen, wir werden von den vorbeilaufenden Männern angestarrt, aber das interessiert uns nicht. In diesem Moment, und in allen anderen, in denen ich mit ihr bin, gibt es nur uns. Ich sehe nur sie, sie nur mich. Das Zischen des Öls auf unserem Körper, das Summen der Bienen, das Schreien der Kinder und das Platschen des Wassers hallt in unseren Ohren, während wir unsere Seele - umhüllt von seinem Körper aus Fleisch und Blut - ganz der Sonne überlassen. Wer hätte gedacht, dass wir wieder hierher zurückkehren? Vielleicht weil der Schmerz in unseren Füssen zu gross war und wir ihn loswerden wollten, indem wir wieder an dem Ort zurückkommen, wo es anfing?
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