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  • AutorenbildRafete Mamuti

Er, der meine Jahre rettete

2am call
Und da liege ich auf meinem Bett mit dem Handy auf der Brust. Ich müsste schon längst schlafen, da es spät ist, doch ich kann nicht. Nach stundelangem Scrollen auf TikTok und Instagram, lege ich mein Handy ab und schaue zur Decke. Keinen Ton hört man, nichts. Keine Geräusche von draussen, keine Laute im Haus. Ich höre mein eigenes Atmen, tief und langsam. Es ist dunkel, obwohl meine Augen geöffnet sind, sehe ich nichts. Meine Brust bewegt sich schneller, mein Atmen wird lauter. Die Wangen nass. Ich kneife meine Augen zu, die Träne fällt seitwärts in mein Ohr. Langsam hebe ich meine Hand und trockne mein rechtes Auge. Obwohl ich vor Dunkelheit kaum etwas sehe, ist mir verschwommen vor Augen. Ich nehme mein Handy und lege es beiseite. Ich drehe mich zur rechten Seite und beginne zu schluchzen. Ein leises Schluchzen, das man kaum hört. Es ist so laut, wie der Schnee, der an diesen kalten Februar-Tagen auf das Fenster hinabrieselt. Ich weiss nicht, warum ich zu weinen beginne. Vor paar Minuten war ich noch am Lachen. Wie sich etwas in kurzer Zeit verändern kann, ist unglaublich. Ich nehme mein Handy in die Hand und sehe eine Nachricht, die vor 20min abgesendet worden war. Ich drücke darauf und rufe ihn an. Kein Zeichen. Ich lege mein Handy wieder auf die rosa bezogene Matratze und schliesse die Augen. Es vibriert. Er ruft mich zurück. Ich wische mir schnell die Tränen weg und nehme ab. «Hey», sagt er mit schläfriger Stimme. Ich merke, dass er am Schlafen war. Jetzt fühle ich mich schuldig ihn aufgeweckt zu haben. Ich weiss, ich nerve ihn nicht. «Störe ich dich?», sage ich unsicher. «Nein, wie kommst du darauf?» Ich blicke auf die Uhrzeit, blicke ihn an. Wie verschlafen und müde er aussieht, die Augen kaum öffnen kann und vor sich hinmurmelt. «Ist etwas geschehen? Alles in Ordnung?», will er wissen. Ich weiss, er kümmert sich um mich. Ich weiss, er würde vom Schlaf zu mir hinfahren, um mich zu trösten. Ich weiss, dass ich das von ihm kriege, dass ich nie von meinen Eltern bekam. «Alles gut, wollte nur wissen, wie es dir geht. Ich lasse dich schlafen. Bye.» Den roten Knopf oben recht gedrückt schalte ich mein Handy aus. Ich weiss, ich muss schlafen, aber irgendetwas lässt mich nicht. Eine innere Unruhe legt sich breit in mir aus. Ich schaue wieder zur Decke. Den Laptop auf meiner rechten Seite könnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich fange an zu schreiben.

Bunte Blumen und bunte Autos
Ich bin überglücklich. Er kommt heute wieder zu mir. Als er vor der Haustüre ist, laufe ich in meinen schwarzen Shorts, dem weissen Hemd, den schwarzen Sandalen, der weissen Tasche und meinen schwarzen Sonnenbrillen aus dem Haus. Der einzige Kontrast zu meinem Schwarz-Weiss-Outfit im Frühling sind meine blonden Haare und das Korall meines IPhones. Seine babyblauen Shorts und das weisse T-Shirt sehen aus wie eine Zahnpasta, die sich umringt. Sein Adler-Schlangen-Tattoo schaut aus seinem Ärmel heraus und ich kann nicht anders, als darauf zu starren. «Gefällts dir nicht?», fragt er mich mit einem schiefen Lächeln. «Doch, es ist schön und deine Arme sind noch schöner.» Er fährt los. Als ich am Abend, nach fast 9h wieder zuhause bin, gehe ich mir den ganzen Tag durch den Kopf durch. Also, wir waren Eis essen, dann Autos anschauen, dann hat er Blumen für mich gepflückt auf einem Blumenfeld, dann waren wir auf einem Bauernhof, später gingen wir essen und zum Schluss noch baden. Das war so viel für einen Tag und es gab nicht einmal eine einzige Pause oder einen kurzen Moment, in dem wir nicht geredet haben.

Ein langer Weg
Ein ganzes Jahr lang musste ich das aushalten. Jeden Tag die gleichen Beleidigungen hören und wegen den gleichen dummen Gründen streiten. Mein Bruder, der immer einen Streit anzettelt. Meine Mutter, die stundenlang auf mich schimpft und mein Vater, der mich tagelang ignoriert. Bin ich denn nicht unschuldig? Wenn ich denke, dass es wieder gut geworden ist, irre ich mich und alles böse fängt von vorne an. Ich setze mich an meinem Tisch, stelle mein Handy auf und rufe ihn an. Nach drei Sekunden nimmt er ab und redet mit seiner sanften Stimme auf mich ein. Ich erzähle ihm, was geschehen ist und halte meine Tränen zurück, da ich nicht schwach wirken will. Nachdem wir einander das Telefon schonlängst abgehängt haben, schreibt er mir, er sei in 15min bei mir. Ich habe ihn nicht erwartet. Die 80km Weg vom grossen Flughafen über die A3 bis zu mir nach Hause. Er ist vor 35min losgefahren, rechne ich aus. Ich ziehe mich an und hoffe es wird eine bessere Nacht, als der Abend es war. Draussen ist es warm. Die Temperaturen im Juli sind auch bei Sternenlicht heiss. Kurz tippe ich meinem Bruder eine SMS, dass ich mit ihm unterwegs bin. Er antwortet sofort: «Okey, pass trotzdem auf dich auf, sonst schlage ich ihn! xD». Kaum bin ich mit ihm, vergesse ich alle meine Probleme. Wir fahren an den Fluss und holen uns unterwegs noch ein Glace an der Tankstelle, die 24/7 offen ist für hungrige Leute wie wir. Wir Sitzen am Ufer. Meine Füsse spüren das feuchte Gras, es kitzelt an meinen Zehen und ihn offensichtlich auch, da er seine Füsse ins Wasser steckt. Ich gehe ihm hinterher und ohne mit den Wimpern zu zucken, hat er mich schon ins Wasser gezogen. Er umarmt mich. Meine Kleider kleben an mir und sein weisses Shirt nützt nichts mehr, um seinen straffen, muskulösen Körper zu verstecken. Da blicke ich ihn an, die Sterne über uns, das Wasser kälter als die Aussentemperatur, seine nassen Haare tröpfeln ihm ins Gesicht. Obwohl er mich in den Fluss gezogen hat und ich dabei fast ertränkt bin, hat er mich das ganze Jahr über gerettet. Jedes Mal war er da, als ich es selbst nicht war.

Um Mitternacht schlägt die Glocke 0
Es ist kurz vor Mitternacht. In wenigen Minuten werde ich endlich 18. Die Jahre sind so schnell vorbei gegangen. Ich liege auf meinem Bett und mein Handy auf meiner Brust. Ich warte ab. Um Punkt Mitternacht ruft er mich an und fängt an zu singen. Ich hatte gedacht, er hätte es längst vergessen und wäre am Schlafen. Er gratuliert mir und holt einen Muffin mit einer Kerze und zündet diese an, dann pustet er sie aus und sagt, ich solle mir etwas wünschen. «Ich hasse es, dass du so weit weg bist», sage ich. «Vergiss nicht, dass ich am Wochenende zu dir komme und wir zusammen feiern.» Ich freue mich auf den Samstag und kann es kaum erwarten ihn zu sehen.

Das Vergessen
Nachdem ich in mein Zimmer gerannt bin, gehe ich mir nochmal durch den Kopf, was sie zu mir gesagt hat. «Ich hasse euch.» Hasst sie meinen Bruder und mich wirklich so sehr? Ich liege auf meinem Bett. Mein Handy leuchtet auf, er hat mir geschrieben, «Bin da.» Es ist endlich Samstag. Er wartet am Ende der Strasse. Ich laufe langsam zu ihm und denke an gar nichts. In meinem Kopf eine Leere. Meine Gedanken sind so leise, dass ich meinen Magen höre. Die Nervosität steigt in mir auf, bis ich sein Auto erreiche. Er steigt aus, wir laufen hüpfend aufeinander zu, wie in einem Film umarmen wir uns so fest wie’s geht. Ich steige ein und die Sitzstellung ist gleich, wie ich es hinterlassen habe. Auf dem Hügel angekommen, steigen wir aus, um zu essen. Fast fertig mit dem Essen fängt es an zu regnen. Wir steigen wieder ins Auto und hören für eine Weile dem Regen zu, der typisch für diese Jahreszeit ist, auf die Haube treffen. Wir blicken uns an, die Fenster sind von innen beschlagen, von aussen fliessen die Regentropfen nach unten. Es ist dunkel draussen. Es wird für eine Sekunde hell, wenn die Spannung des Blitzes gross ist und einschlägt. Wir blicken uns weiterhin an. Die Spannung zwischen uns ist gross, aber schlägt nicht ein. Ich blicke zum rechten Fenster und zeichne mit meinem Finger ein Smiley auf die Scheibe. Er blickt mich weiterhin an, bis er das Schweigen bricht. «Willst du dein Geschenk ausprobieren?» Ich schaue ihn an, und nehme wortlos die Kamera, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat, in die Hand. Es ist eine violette Polaroid Kamera. Ich rücke mich zu ihm, und halte die Linse auf uns, wir posieren und schon gleitet ein Foto aus der Kamera heraus. Nach etwa zwei Minuten sehen wir das Bild klar. Ich habe vergessen, was meine Mutter mir gesagt hatte. Wegen ihm ist mein Kopf nie da, wo er sein sollte.

Hass, Liebe und Mitleid
Ich war gerade dabei das schwarze Hemd zu bügeln. Das Bügeleisen am Strom angeschlossen und das Hemd liegend auf dem Brett. Nachdem ich einen Ärmel geglättet habe, läuft meine Mutter runter und sagt, ich hätte es falsch herum. Sie schiebt mich weg und nimmt das Bügeleisen in die Hand. Von da an beginnt sie zu reden. Ich setze mich hin, um weiter zu lernen. «Ich hasse euch», sagt sie in die Leere des Zimmers. Ich drehe mich um und blicke sie an, «Ja, warum hast du uns auf die Welt gebracht, wenn du uns hasst?» Sie schnappt wütend nach Luft, dreht das Hemd um, «Ich habe nicht gedacht, dass so etwas aus mir rauskommt. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich euch nie geboren, sondern hätte abgetrieben. Ich hatte gehofft, dass andere Kinder rauskommen.» Meine Augen füllen sich mit Tränen, doch ich darf nicht weinen, weil mein Make-Up sonst verschmiert. Ich probiere es nochmal. «Niemand hat dir gesagt, du sollst Kinder machen. Du wusstest, was auf dich zukommen wird. Wir sind nicht mal das Schlimmste. Sei froh hast du uns. Ich bin aber nicht deine Therapeutin, um dir sowas zu sagen.» «Du liebst es doch herumzuhuren.» Ich schliesse meinen Laptop so wütend, dass der Display jetzt einen winzigen Riss hat. Packe meine Sachen und laufe die Treppen hoch. «Jaja, lauf jetzt einfach weg, zahl deinen ganzen Scheiss selber!», schreit sie mir hinterher. Ich habe meinen Laptop selbst bezahlt und werde es wieder tun. Und obwohl sie mir alles Mögliche an den Kopf wirft, habe ich Mitleid mit ihr. Mitleid mit ihr, wie mit den Tieren, die bei dieser Kälte draussen rumirren müssen.

Die Garage
Als ich ihn anrufe, ist er sein Auto in der Garage am Reparieren. Sein Gesicht ist schwarz vom Motoröl seines schwarzen BMW 740d. Es hat einen Verbrennungsmotor hat er mir letztes Mal an der Tankstelle erklärt und hat bis zu 300PS. Die genaue Zahl weiss ich nicht mehr, er hat sehr viel über sein Auto geredet. Er ist schmutzig und am Arbeiten, doch nimmt er mir jedes Mal das Telefon ab, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich schaue ihm zu. Er wechselt seinen Grill von Silber zu Schwarz. Sowie er seine Scheiben bis zur maximalen Verdunklung getönt hat. Oder er sein Auto tiefer gelegt hat, seine alten silbrigen Felgen durch neue schwarze ersetzte. Immer wieder sagt er, er ändere nie wieder etwas an seinem Auto, da er es verkaufen will, arbeitet trotzdem wieder an etwas anderem. Ich höre seinen Vater auf unsere Muttersprache reden. Er begrüsst mich und findet, es toll, dass ich seinem Sohn beim Arbeiten zuschaue, um zu wissen, was für ein Mann er ist.

Wieder liegend
Eine Story nach der anderen. Ich weiss nicht, was tun. Ich liege wieder auf meinem Bett und denke nach. Alle meine Freundinnen amüsieren sich draussen, während ich zuhause gefesselt bin. Es ist ein Gefängnis, indem ich Essen kriege, die Kleider gewaschen bekomme und nichts zahlen muss. Doch, ich finde dieses Leben weniger toll als das Leben, indem ich jetzt mit meinen Freundinnen auf dem Lidl-Parkplatz am Reden wäre. Ich nehme es meinen Eltern nicht übel, weil ich weiss, dass ich ihnen eines Tages dafür danken werde. Aber trotzdem verpasse ich meine Jugend. Eine gleichgültige Jugend. Ich mache doch nichts. Ich bin unschuldig und reif genug, um die Konsequenzen zu wissen, falls irgendetwas passieren würde. Warum nur, frage ich mich jedes Mal aufs Neue. Warum nur. Habe ich in meinem vorherigen Leben so viel Scheisse gebaut, dass ich jetzt dazu verdammt wurde?

Die Kerze auf dem Muffin
Schon mehr als ein Jahr ist vorbei, als wir zusammen im Fluss durch die dunkle Nacht schwammen und das Sternenlicht das Einzige war, dass uns dabei ein wenig Licht spendierte. Ich bin froh sagen zu können, mein Geburtstagswunsch ist erfüllt. Nach all den ganzen Streitereien zuhause und dem Verlieren von engsten Geliebten, habe ich ihn nie verloren. Und da ich ihn nie verloren habe, konnte ich mich selbst nie verlieren. Obwohl ich immer wieder einzelne böse Gedanken hatte, dass er sich vielleicht für andere Frauen interessiert, war ich doch immer die Einzige, die existierte.
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