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  • AutorenbildRafete Mamuti

Eine Shqipe aus Pratteln


Fatjona Haziri links, Shqipe Sylejmani Mitte, Ines Siegfried rechts
Die albanische Folklore-Musik dringt aus den Lautsprechern im Foyer. Ich schliesse die Augen und höre ihr zu. Mir wird es warm ums Herz. Es erinnert mich an meine Heimat, wenn Dutzende Hochzeiten stattfinden und wir zu dieser Art von Musik tanzen. Ich fühle mich zuhause. Doch bin ich nicht schon zuhause? Hier im Foyer meiner Schule in der Schweiz? Von Rafete Mamuti (Fotos: Maxine Walder)

Zwei Albanerinnen stehen vorne, die Autorin Shqipe Sylejmani und Fatjona Haziri, eine ehemalige Schülerin des Gymnasiums Muttenz, an dem sie jetzt Wirtschaft und Recht unterrichtet. Im Foyer stehen am 29. November alle Stühle in Reihen und Dutzende von Schüler*innen sitzen und warten darauf, dass die Mittagsveranstaltung beginnt. Einige von ihnen, wie auch ich und die zwei Frauen vorne, haben eine zweite Heimat. Bevor die Schweizer Autorin mit albanischer Herkunft ins Rampenlicht treten kann, erzählt sie mir und meiner Freundin, wie solche Veranstaltungen sie immer froh und emotional machen, wenn sie so viel Schüler*innen sieht, die sie sehen wollen, oder sie auf der Bühne steht und über ihre Kultur und ihr Buch redet. Über die Heimat zu reden, macht jeden emotional. Man redet über das, was man zurückgelassen hat, und über die Menschen, die man zurückgelassen hat. Die Menschen, die auf der Strasse sitzen und ihre Früchte verkaufen. Die Menschen, die dich anstarren, wenn sie erblicken, dass du nicht von dort bist. Die Menschen, die deine Familie sind und sich jedes Jahr aufs Neue von dir verabschieden müssen. Als das Publikum leiser wird, höre ich eine Melodie aus den Lautsprechern dringen. Ich erkenne sofort, dass es sich um eine albanische Melodie handelt. Ines Siegfried, eine Lehrerin, begrüsst uns im Namen der Kulturkommission. Nach ihr übernimmt Fatjona Haziri das Wort. Sie fängt an über die Biografie der Autorin Shqipe Sylejmani zu erzählen. Ein wunderschöner und zugleich schwerer Name. Der Vorname bedeutet übersetzt «Albanerin». Denn auf Albanisch heisst Albanerin «Shqipe». Es gibt viele solcher patriotischen Namen wie «Kosovare», «Ilirida» oder «Illyria». Das Schwere an ihnen ist das Aussprechen, ein «y» ist ein «ü», «q» wird als «tsch» ausgesprochen. Die Autorin erzählt, dass sie schon immer Probleme in ihrem Namen gesehen hat, etwa als sie eine Lehrstelle suchte und dabei ihr Name als exotisch galt und sie daraufhin anders behandelt wurde, indem sie kein Namensschild tragen sollte. Viele Nicht-Albaner*innen könnten ihn nicht aussprechen. Shqipe spricht sich als «Schtschipe» aus, dabei ein stimmhaftes «tsch», das gelingt vielen nicht, genau wie bei unseren Nati-Fussballern Xhaka – «Tschaka» und Shaqiri – «Schatschiri».

Ein Bär mit Kostüm

Shqipe Sylejmani ist 1992 von Pristina nach Muttenz gezogen. Sie erzählt uns von ihrer Kindheit und den Herausforderungen mit der Sprache, in der Schule oder der Lehrstelle. Während sie Baseldytsch redet, höre ich doch manchmal ihren albanischen Akzent heraus. Sie vergleicht den Migrationshintergrund jeglicher Personen mit einem Bären mit Kostüm. Man trägt diesen immer mit und er steht immer hinter einem wie eine Bürde. Fatjona Haziri fragt: «Wird aber d’Bürde und de Bär kleiner und viellicht zu mene Kuschelbär?» Auf diese Frage antwortet Shqipe, dass der Bär immer dabei sein wird. Es gibt andere Menschen, die schon nur wegen ihrem Aussehen diskriminiert werden. Wir sollten uns immer anpassen und ja nicht auffallen, aber irgendwann mag man nicht mehr. Wir wollen uns zeigen, wie wir sind und sagen: «Jetzt längts! Ich misch beidi Kulture zemme.» Sie und ihre Familie haben nicht alles vom Kosovo aufgegeben, um sich dann hier in der Schweiz unterdrücken zu lassen, weil wir auffälligere Namen haben oder anders aussehen. Die Autorin fragt sich selbst und doch hat sie auch das Publikum damit angesprochen, denn ich merke, wie ich mir selbst die Frage stelle und andere um mich herum auch. «Was heisst es, Wurzeln von einem anderen Land zu haben? What is my heritage?» Momentan sitze ich auf diesem Holzstuhl in einem staatlichen Gebäude mitten in Muttenz und nicht auf dem weissen Plastikstuhl in meinem Garten mitten in Skopje. «Wie, du bist Albanerin aus Skopje? Hä, bist du nicht Mazedonierin?» Als Allererstes heisst es Nordmazedonien, schon seit Jahren. Zweitens gibt es uns Albaner*innen überall; Montenegro, Kosovo, Nordmazedonien, Serbien, Italien etc. Wir haben alle die gleichen Wurzeln. Sind aber wie ein Baum verteilt, der seine Äste und Zweige in den Himmel hinaus verteilt. Alle sind Albaner*innen, aber unterschiedliche Arten von ihnen. Wie Granit Xhaka ein albanischer Fussballspieler aus der Schweiz ist, ist Milot Rashica einer aus dem Kosovo. Wie Ismail Kadare ein Autor aus Albanien ist, ist Shqipe Sylejmani eine aus der Schweiz. Shqipe Sylejmani erzählt uns, dass sie Real Madrid-Fan ist und die Jungs im Publikum werden froh und erwähnen Ronaldo. Sie sagt, dass der Fussball wichtig ist, weil er alle zusammenkommen lässt und jede*r froh ist, egal welche Nationalität der Fussballspieler hat. Alle spielen zusammen und es ist nur wichtig, wer besser spielt und wer nicht. Das stimmt nicht unbedingt, denn die Politik wird sehr oft eingemischt, auch wenn es heisst: «Politik gehört nicht ins Stadion». Ein Beispiel dafür haben wir ein paar Tage nach der Veranstaltung mit Shqipe Sylejmani an dieser WM gesehen, als die Schweiz gegen Serbien spielte. Am letzten Gruppenspiel vom 2.12. spielte nicht nur der Ball quer über das Feld, sondern auch die Nationalität eine sehr grosse Rolle. Serbien kämpfte sozusagen eher gegen Albanien als gegen die Schweiz. Zudem kam es noch zu Auseinandersetzungen zwischen den Spielern und zu nationalistisch motivierten Gesten beider Seiten.

Die Sprache der Träume und des Denkens

Wer mit verschiedenen Sprachen aufwächst, wird oft gefragt, in welcher Sprache man denkt oder träumt. Ich z. B. denke in beiden Sprachen: Wenn ich rechne, merke ich mir die Zahlen auf Albanisch, auch wenn sie umgekehrt sind, d.h. statt zweiundsechzig würde man „sechzigundzwei“ sagen. Bei französischen Texten fallen mir die albanischen Wörter ein, weil es noch viele Parallelwörter hat, z. B. mériter (frz.) und meriton (alb.). So ergeht es auch der Autorin. Sie sagt, dass ihr beim Schreiben bewusst geworden ist, dass sie vom Albanischen ins Deutsche übersetzen kann. Die Leser*innen finden das Buch berührend. So ist nicht die Sprache das Wichtige, sondern die Erzählweise, die benutzt wird. Auch wenn ein Buch auf Deutsch geschrieben ist, sind es doch die Gefühle, die man versteht. In «Bürde und Segen» schreibt die Autorin albanische Anekdoten auf Deutsch auf. Doch, obwohl es Deutsch ist, ist es die Kultur, die herübergebracht und verstanden wird. Wie gesagt, die Sprache spielt dabei keine Rolle, nur die Emotion beim Lesen.

Shqipe Sylejmani liest aus ihrem Buch "Bürde und Segen"
Bürde und doch Segen – Aufwachsen in zwei Kulturen

Fatjona Haziri greift das erste Buch auf. Es handelt von Shote. Sie ist eine Albanerin aus der Schweiz und hat kein Ziel im Leben, sodass sie eine Reise durch Albanien, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien macht. Die Reise entsteht dadurch, dass sie das Tagebuch ihrer Grossmutter hat, die verstorben ist und die durch diese Länder reisen wollte. Shote will dabei ihr Lebensziel finden. Dabei lernt sie drei verschiedene Personen kennen; Luan, der für die Liebe, Hava, die für die Freundschaft, und Gjon, der für die Familie steht. Shqipe liest uns das erste Kapitel aus ihrem Buch «Bürde & Segen» vor, das auch auf Albanisch und Englisch erhältlich ist. Nach dem dritten Satz habe ich bereits Tränen in den Augen. Mit einer sanften und langsamen Stimme liest sie 20 Minuten lang gefühlvoll vor. Das Publikum hört gebannt zu, denn es ist das persönlichste Kapitel, da es 1 zu 1 im Leben der Autorin passiert ist. Shote erzählt von ihrer Grossmutter, die letztes Jahr gestorben ist. Sie sitzt vor ihrer Haustüre in Pristina und beobachtet ihre Nachbarn in ihrem Quartier. Diese denken sich: Was für ein faules Mädchen aus der Schweiz, nur am Schreiben und keine Sorgen, da sie alles hat, was sie will! Ihr Grossvater kommt aus der Tür hinaus und redet mit ihr. Sie reden über die Liebe der Grossmutter, die zur Frau und die im Leben. So auch über die Hoffnung im Leben und alles, was man tut, tut man für sich selbst. So erzählt er ihr eine Anekdote, die von einem Dorfältesten erzählt, der einen weisen Wanderer zum Essen eingeladen hatte. Der Wanderer bedankte sich mehrmals und sagte: «Was der Mensch tut, tut er am Ende immer nur für sich selbst». Der Dorfälteste dachte, dass der Wanderer das Festmahl nicht schätzte, und liess sein Brot für den nächsten Tag vergiften. Als der Wanderer davon ging, gab er sein Brot einem Krieger. Dieser starb vor Schmerzen und war der Sohn des Dorfältesten. So fielen ihm die weisen Worte des Wanderers ein. Shote verlässt ihr Zuhause und macht genau das, was der Wanderer tut: Sie erzählt die Anekdoten weiter und bewahrt, obwohl sie in der Schweiz lebt, somit die albanische Kultur und Seele. Und genau das tut die Autorin Shqipe Sylejmani mit ihren Werken auch.
Shqipe Sylejmani erzählt Ines Siegfried über die Anekdoten im Balkan
Die Kapitel sind so aufgebaut, dass in jedem mindestens eine albanische Anekdote vorhanden ist. Ines Siegfried greift die Anekdoten auf und befragt die Autorin dazu. Im Balkan gibt es viele Anekdoten. Es ist schwer, die Kultur aufrechtzuerhalten, wenn man nicht in der Kultur lebt. Wenn man mit zwei verschiedenen oder sogar mehreren Kulturen aufwächst. Wenn man dazu gebracht wird, sich anzupassen. Shqipe Sylejmani sagt, dass sie die Anekdoten und Geschichten ihrer Kultur weiterbringen will, wenigstens in Bücherform, weil diese für immer erhalten bleiben, die Menschen hingegen nicht. Die Kultur unserer Heimat soll erhalten bleiben und darf nicht verloren gehen, auch wenn man in zwei verschiedenen Kreisen lebt. Jedes Mal wird gefragt: «Woher kommst du?» – Ja, aus Pratteln. «Nein, woher kommst du wirklich?» – Was sollen wir darauf antworten? Von wo komme ich her, wenn ich doch in der Schweiz geboren wurde und hier lebe und sich hier mein ganzes Leben abspielt: die Schule, Freunde, Familie, Arbeit, mein Zuhause. Aber was ist mit meiner Heimat, meinem Zuhause, meiner Familie, die ich zwei- bis dreimal im Jahr besuche, wobei ich immer traurig werde, sobald ich wieder zurück nach Pratteln muss mit dem Gedanken, sie nächstes Jahr nicht mehr zu sehen? Mit beiden Kulturen aufzuwachsen ist ein Segen. Zu sehen, wie sie wie zwei Sträucher ineinander wachsen und zu einem Strang werden. Die Bürde hinter dem Aufwachsen mit zwei Kulturen ist nicht nur die ständige Identitätskrise, nicht beantworten zu können, ob ich Albanerin oder Schweizerin bin oder wo mein Zuhause ist, sondern die Bürde sind auch die beiden Sprachen, die zu einer cremigen Pesto-Sauce in einem Blender werden. «Ich versteh besser Deutsch als du», sagt mir mein Vater mit gebrochenem Deutsch jedes Mal, wenn ich seine Dokumente übersetzen muss. Welch eine Ironie.

«Erfüll dir dini Träum, bevor du d’Träum vo anderne erfüllsch!» – Mit diesem Satz von ihrer Mutter schliesst Shqipe Sylejmani die Diskussion und bekommt noch ein Geschenk von den Moderatorinnen als Dankeschön, unabsichtlich in Rot-Schwarz verpackt wie die albanische Flagge. Shqipe verabschiedet sich noch von uns, indem wir alle zusammen ein Selfie machen. Einige Hände als Doppelkopfadler fliegen in die Höhe, während andere vom Foyer hinaus mit ihren langen Winterjacken und den dicken Schals hinausfliegen.
drei Albanerinnen aus der Schweiz: von links nach rechts; Fatjona Haziri, Shqipe Sylejmani, Rafete Mamuti

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